Ich gestehe: ich habe mein Kind nicht ernst genommen
„Mama, ich glaube, ich bin kein Mädchen, sondern ein Junge.“ Als meine 11-jährige Tochter mir dies vor einigen Jahres plötzlich sagte, war ich zunächst verdutzt. Ich dachte mir: jaja… mal wieder einer deiner vielen Versuche, Aufmerksamkeit zu bekommen.
Mein drittes Kind ist als Mädchen geboren, worüber ich nach zwei Jungen damals sehr glücklich war. Und obwohl ich mich für tolerant und weltoffen und natürlich emanzipiert gehalten habe, verhielt ich mich – rückblickend betrachtet – nicht wirklich so. Auch wenn ich nicht der Rosa-Glitzer-Rüschen-Fan war - ich liebte es einfach, Kleider zu kaufen, die langen Haare zu frisieren und zu basteln und zu malen. In meinen Augen waren das genau die Dinge, die ich mit meinen Jungs eben nicht hatte. Ich hatte sozusagen nun eben von allem etwas.
Augenwischerei
Und dann diese Aussage! Äußerlich gelassen versuchte ich die Mitteilung meines Kindes zunächst zu relativieren. „Woher willst Du das denn wissen? Das wird sich durch die Pubertät sicher noch ändern. Ach, das verwächst sich, ist bestimmt nur eine Phase.“ Die Reaktion meines Kindes war rückblickend vorhersehbar: wütend und enttäuscht rauschte es in sein Zimmer.
Und ich? Verwirrt, ungläubig, unwissend – so fühlte ich mich in diesem Moment. Ich versuchte mich zu beruhigen: Wahrscheinlich sind das nur die Anzeichen der beginnenden Pubertät mit dem typischen Abgrenzungsverhalten. Dass diese Aussage nicht zwingend mit dem Thema „Pubertät“ zu tun hatte, begriff ich erst viele Monate später.
Mein Kind scheute sich nach meiner Reaktion jedoch nicht, mich weiterhin mit dem Thema zu konfrontieren. Welchen Jungennamen ich wohl gewählt hatte, wenn es nicht als Mädchen geboren worden wäre. Und natürlich wollte mein Kind nicht mehr mit dem weiblichen Pronomen angesprochen werden. „Ähm... wie soll das denn gehen?“ fragte ich. Darauf mein Kind: „Na ganz einfach: Ich heiße ab jetzt eben .... und ihr sagt er.“
Meine inneren Widerstände
Es fühlte sich für mich so unglaublich fremd an, für meine süße Tochter einen Jungennamen zu suchen und statt von „ihr“ von „ihm“ zu sprechen. Fremd, verrückt und total schräge. Irgendwie spürte ich aber, dass es meinem Kind wichtig war. Ich fragte mich: Wie soll es denn nun weitergehen? Stimmt das denn wirklich? Wie soll so ein junger Mensch denn wissen, wie es sich in einem anderen Geschlecht anfühlt? Flüchtet sie sich da vielleicht vor etwas? War ich ein schlechtes Frauen-Vorbild, in welchem sie sich nicht wiederfindet? ...
Unzählige Fragen wirbelten in mir. Ich fing an, im Internet zu recherchieren und war über das, was ich dort las, zusätzlich noch geschockt: Was wird mein Kind alles ertragen müssen: Ausgrenzung, Mobbing, Diskriminierungen … von den medizinischen Eingriffen wie Hormonen und Operationen ganz zu schweigen. Dazu kamen Zweifel an meiner Mutterrolle und sogar an meinem Kind. Und was ist, wenn es sich nach ein paar Jahren wieder anders überlegt?
Mein Blick wird klarer…
Zu unserem großen Glück ist mein jüngstes Kind meistens sehr mitteilungsbedürftig. Wir redeten viele Stunden miteinander, ich recherchierte unglaublich viel im Internet und war mit ihm bei einer Beratungsstelle. Mir eröffnete sich nach und nach eine Welt, die mir bis dahin verborgen war. Ich saugte jegliches Wissen auf wie ein Schwamm.
Mehr Wissen über das Thema „Trans*Identität“ zu bekommen, hat mir geholfen, mein Kind besser zu verstehen. Wobei ich denke, dass jemand, der sein Geschlecht nie in Frage gestellt hat, diese Gefühle wohl kaum wirklich verstehen kann. Wir versuchen uns mit Fakten, wissenschaftlichen Erkenntnissen eine Erklärung zu geben. Das allein jedoch war es nicht, was mir half, wieder die innere Verbindung zu meinem Kind zu fühlen.
Meinem Kind wahrhaftig mit offenem Herzen zuzuhören und es wirklich ernst zu nehmen, war einer der wichtigsten Schlüssel für mich. Dafür musste ich zunächst lernen, mich mit meinen Werten auseinander zu setzen.
Was macht eine Frau aus?
Und was einen Mann?
Was beeinflusst, ob ich mich als Frau oder Mann fühle? Mein Körper, meine Umwelt, mein Gefühl?
Was ist Toleranz für mich? Wo ist der Unterschied zur Ignoranz?
Was ist Akzeptanz? Wann fühle ich mich akzeptiert und woran merke ich das?
Wenn wir anfangen, uns mit unseren Werten und Ansichten in einer offenen Weise auseinanderzusetzen, werden wir feststellen, dass wir vieles ungefragt aus unserer Kindheit und unserer Umwelt übernommen haben. Was davon hielt ich für gerecht, fortschrittlich oder einfach nur menschlich? Und wie lebte ich meine Werte wie Toleranz und Mitgefühl? Wie wurden sie von meinen eigenen Ängsten beeinflusst und konnte ich deshalb nicht wirklich leben?
Meine Werte zu definieren, zu hinterfragen und auch zu korrigieren war für mich eine unweigerliche Folge. Das ist ein entlarvender und auch anstrengender Prozess voller Selbstzweifel. Und ich musste beschämt feststellen, dass ich einige Werte nicht konsequent lebte. Zu lernen, dass ich mein Ver-Halten verändern muss, damit es zu meiner inneren Haltung passt, war herausfordernd für mich - für meine Familie - für mein Umfeld wie Freund*innen, Kolleg*innnen.
Letztlich ist nicht entscheidend, welche Werte Du nennen kannst als Deine eigenen. Entscheidend ist, wie sich Deine Werte in Deinem Verhalten und in Deinem Umgang mit anderen Menschen zeigen. Ich lernte, mir selbst und meinen Werten wieder zu vertrauen. Vor allem dadurch konnte das Vertrauen zwischen mir und meinem Kind so sehr wachsen, dass es sich von mir wirklich in seinem Weg unterstützt fühlt. Ich kann mittlerweile selbstbewusst und innerlich stark die Interessen meines Kindes nach außen vertreten. Auch wenn ich damit unbequem bin und zuweilen anecke mit meinen Sichtweisen.
Für mein Kind und mich passen die Worte aus dem Song von Xavier Naidoo hier sehr gut:
Dieser Weg wird kein leichter sein,
dieser Weg wird steinig und schwer.
Nicht mit vielen wirst du dir einig sein,
doch dieses Leben bietet so viel mehr.
Ich gehe diesen Weg mit meinem Sohn seit nunmehr drei Jahren. Nicht nur mein Sohn macht eine Transition durch – auch wir als Eltern und Familie transformieren uns dadurch in unserer Haltung zueinander und in eine tiefere Akzeptanz füreinander.
Wenn Du Dir Unterstützung bei diesem Weg für Dich, Dein Kind und Deine Familie wünschst, bin ich für Dich da. Bei einem ersten unverbindlichen Gespräch finden wir miteinander heraus, was genau gerade für Dich gut ist und womit ich Dir helfen kann.
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Bunte Grüße