Sind Pubertätsblocker schädlich? - Teil II

Wenn Du, wie ich auch, Elternteil eines trans* Kindes oder Jugendlichen bist, wirst Du sehr wahrscheinlich irgendwann vor der Herausforderung stehen, Dich mit Pubertätsblockern eingehend auseinanderzusetzen. Solange unsere Kinder noch nicht volljährig sind, können wir als Eltern eine Behandlung unseres Kindes mit Pubertätsblockern befürworten oder verhindern. Um eine Entscheidung dafür oder dagegen zu treffen, ist es wichtig, sich über die verschiedenen Aspekte Gedanken zu machen, die diese Entscheidung beeinflussen.

Im ersten Teil kannst Du lesen, was Pubertätsblocker sind, welche (Neben-)Wirkungen sie haben und wer über die Abgabe entscheidet.

Im zweiten Teil geht es darum, sich mit den Argumenten auseinanderzusetzen, die dafür oder dagegen sprechen. Zum Schluss erzähle ich etwas über meinen Entscheidungsprozess, den ich mit meinem Kind und den Fachkräften gegangen bin. Vielleicht nimmst Du daraus etwas für Dich mit.

Die kontroverse Diskussion

Die Diskussion um die Pubertätsblocker wird sehr kontrovers geführt und zwar sowohl unter den medizinischen Fachleuten als auch unter Eltern (im Übrigen von meist nicht betroffenen Eltern!). Zwei der Haupt-Kritikpunkte beleuchte ich hier näher.

Blocker werden verharmlost und viel zu schnell verschrieben!

Viele besorgte Kritiker*innen argumentieren damit, dass Blocker viel zu schnell verschrieben werden und von vielen als harmlos angesehen werden. Meine Erfahrung mit meinem Kind ist eine andere und auch aus meiner Beratungspraxis kann ich dieses Argument nicht teilen.

Zum einen sind wie in Teil I schon beschrieben, mehrere Personen in diese Entscheidung involviert. Schon allein weil eine mehrmonatige psychotherapeutische Behandlung für die Indikationsstellung vorausgeht, kann von einer leichtfertigen Verschreibung hier in Deutschland also derzeit keine Rede sein.

Spätestens mit Beginn der körperlichen Veränderungen während der Pubertät geraten junge trans* Menschen in eine Leidensspirale. Ihr Körper verändert sich in eine Richtung, die sich falsch anfühlt. Das ist etwas anderes als ein Unwohlsein über die Veränderungen, die alle Menschen durchlaufen und die zum Reifungsprozess zum erwachsenen Individuum dazugehört.

Trans* Kinder und Jugendlichen haben - oftmals schon sehr früh - ein sehr sicheres tiefes Wissen darüber, welches Geschlecht sie haben. Die Veränderungen ihres Körpers mit Beginn der Pubertät fühlt sich für sie schlichtweg falsch an. Auch Jugendliche, die erst mit Eintritt in die Pubertät feststellen, dass für sie etwas nicht stimmt, empfinden die körperlichen Veränderung als große Belastung. Das wird als Geschlechtsdysphorie oder Genderdysphorie bezeichnet.

Jugendliche, die keinen Zweifel an ihrem Geschlecht haben, gewöhnen sich an die Veränderungen und nehmen sie nach und nach an. Für sie sind die Ausbildung von Brüsten, Stimmbruch etc. vielleicht ungewohnt, aber nicht grundsätzlich falsch. Für trans* Jugendliche ist das anders. Für sie wird das Gefühl, dass die natürliche Umgestaltung ihres Körpers nicht richtig ist, immer stärker und sie entwickeln eine Abneigung und manchmal sogar einen regelrechten Hass auf Teile ihres Körpers.

Die Geschlechtsdysphorie ist eine Folge der sogenannten Geschlechts- oder Genderinkongruenz. Das bedeutet, Betroffene fühlen sich nicht dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht zugehörig. Dieses von vielen Betroffenen als „im falschen Körper geboren“ beschriebenen Gefühl löst bei den meisten viel Leid aus. Das kann sich bei den Jugendlichen unterschiedlich zeigen. Einige ziehen nur noch besonders weite Kleidung an oder essen zu wenig oder zu viel, weil sie meinen, dass sich damit bestimmte Körperbereiche verdecken lassen. Oftmals ziehen sie sich zurück und nicht wenige rutschen in eine Depression. Auch selbstverletzendes Verhalten oder Suizidgedanken sind keine seltenen Folgen. Um mit diesem Leid umzugehen und auch um anderweitige psychische Auslöser oder Hintergründe der Symptome aufzudecken, ist eine begleitende Psychotherapie für die Betroffenen unumgänglich.

Zum einen ist es für die Betroffenen wichtig, mit ihrem destruktiven Verhalten gegen sich selbst umzugehen. Zum anderen soll in der Therapie herausgefunden werden, ob hinter dem Transitionswunsch eine andere psychische Erkrankung steckt, die für die Geschlechtsinkongruenz ursächlich sein könnte. Aus diesem Grund ist eine psychotherapeutische Begleitung bei einer trans*erfahrenen Person unbedingt empfehlenswert.

Die psychotherapeutische Versorgungslage ist ganz allgemein für Kinder und Jugendliche in Deutschland ohnehin schon prekär. Wartezeiten von mehreren Monaten sind leider keine Seltenheit, sondern Normalität. Eine auf trans* Kinder und Jugendliche spezialisierte*n Psychotherapeut*in zu finden und zeitnah einen Termin zu bekommen, ist fast aussichtslos. Daher ist eine dem Transthema offene Einstellung der psychotherapeutischen Person schon hilfreich, damit sich die Betroffene gesehen fühlen und sich öffnen.

Da sich verantwortungsvolle Endokrinolog*innen ohnehin mindestens eine, meist zwei psychotherapeutische oder psychiatrische Indikationen vorlegen lassen, kann also nicht von einer leichtfertigen Gabe von Pubertätsblockern gesprochen werden.

Pubertätsblocker lassen keine freie Entscheidung!

Ein weiteres Argument der Kritiker*innen von Pubertätsblocker ist, dass durch die Verabreichung der Weg in eine Einbahnstraße zur Transition führt. Nach deren Auffassung entscheiden sich die wenigsten Jugendlichen nach Absetzen der Blocker dafür, in ihrem ursprünglich zugewiesenen Geschlecht zu leben. Daraus folgern sie, dass die so behandelten Jugendlichen quasi in eine medizinische Transition „geführt“ werden und folgern daraus, dass das Risiko sehr hoch ist, dass viele diese Transitionsschritte als Erwachsene bereuen würden.

Dazu gibt es eine interessante Studie aus den Niederlanden, die im Oktober in "The Lancet Child & Adolescent Health Journal" erschienen ist. Von 720 Jugendlichen, die Pubertätsblocker eingenommen hatten, nahmen 704 als Erwachsene Hormone ein, die ihr Geschlecht veränderten.

Spricht das nun dafür, dass Pubertätsblocker nur diejenigen bekamen, die sie wirklich brauchten? Oder haben die Pubertätsblocker einen Weg geebnet, den die Kinder ohne diese Medikamente nicht beschritten hätten?

Die Hauptautorin der niederländischen Studie findet die Ergebnisse beruhigend: Die überwiegende Mehrheit verwende weiterhin Hormone zur Geschlechtsangleichung, "was im Kontext der wachsenden öffentlichen Besorgnis über das Bedauern von Geschlechtsanpassung beruhigend ist", schreibt Marianne van der Loos von der Freien Universität Amsterdam.

In den Niederlanden gibt es schon seit Ende der 1990er Jahre ein Protokoll zur Behandlung juveniler Geschlechtsdysphorie. Nach einer "gründlichen Diagnostik", so van der Loos, bekommen die Jugendlichen zuerst Pubertätsblocker, um Zeit zu gewinnen und ihnen Belastungen zu ersparen. Ab 15 oder 16 Jahren können diejenigen, die weiterhin das Geschlecht wechseln wollen, mit einer dauerhaften Hormonbehandlung beginnen.

In anderen Ländern wie den USA oder Großbritannien wird versucht, den Einsatz von Pubertätsblockern und Hormonbehandlungen unter 18 Jahren einzuschränken oder zu verbieten, Dabei hätten Kurzzeitstudien "die positiven Auswirkungen einer Behandlung zur Unterdrückung der Pubertät auf die geistige und körperliche Gesundheit von Jugendlichen gezeigt". Allerdings fehlen noch Langzeit-Daten.

Welche Folgen kann eine Verweigerung der Pubertätsblocker haben? 

Um eine Entscheidung für oder gegen eine Verabreichung von Pubertätsblockern zu treffen, sollten sich Eltern über die Folgen beider Antworten bewusst werden.

Die Entscheidung FÜR Pubertätsblocker zieht Risiken nach sich, wie oben beschrieben. Diese Risiken sind überschaubar und handhabbar, solange sie endokrinologisch UND psychotherapeutisch begleitet werden. Die (Neben-)Wirkungen der Pubertätsblocker sind so gut wie alle umkehrbar. Die Pubertät kommt also nach Absetzen der Blocker wieder in Gang kommt und nimmt ihren natürlichen Verlauf – lediglich um die Zeit verzögert. Die Wirkungen und Langzeitfolgen dieses Medikament ist gut erforscht, da es bereits seit Jahren bei Kindern eingesetzt wird, die zu früh in die Pubertät kommen (Pubertas praecox).

Die Entscheidung GEGEN Pubertätsblocker hat nicht wieder umkehrbare Folgen. Der Körper der Betroffenen wird sich verändern: die weiblichen Brüste wachsen, der männliche Kehlkopf wächst und der Stimmbruch tritt ein, der Bart wächst, der Knochenbau verändert sich in eine weibliche oder männliche Richtung. Nur einige dieser Veränderungen sind nach deren Ausbildung, durch hormonelle oder operative Eingriffe zu beheben. Mit einigen, wie z.B. der tieferen Stimme, müssen trans* weibliche Menschen ihr ganzes Leben klarkommen. Gerade für trans* weibliche Personen bedeutet dies, dass sie immer wieder der Gefahr ausgesetzt sind, sich outen zu müssen oder - z.B. am Telefon - nicht weiblich gelesen zu werden. Das wiederum zieht psychische Belastungen nach sich.

Demnach hat eine Verweigerung der Pubertätsblocker körperlich nicht umkehrbare Folgen für die betroffenen Personen, unabhängig davon, wie ihr Transitionsweg später aussehen wird. 

Bei der Entscheidung oft unterschätzt: die Folgen für die Psyche

Während der als falsch durchlebten Pubertät leiden, wie auch schon oben beschrieben, viele der trans* Jugendlichen unter den psychischen Begleiterscheinungen der Dysphorie. Im Vergleich zu cis Jugendlichen haben über 50% mehr trans* Jugendliche suizidale Gedanken.

Trans* Jugendliche, ebenso wie nicht-heterosexuelle Jugendliche, sind überdurchschnittlich häufiger Diskriminierungen und Mobbing ausgesetzt. Die Folgen können nicht nur Depressionen sein, sondern es können sich zusätzlich Angst- und Persönlichkeitsstörungen entwickeln. Ebenso steigt durch den Leidensdruck die Neigung zum Suchtverhalten deutlich an.

Das soziale Umfeld kann mit dem entsprechenden Verhalten (korrekte Ansprache mit Namen und Pronomen, akzeptierender und unterstützender Umgang) sehr viel Entlastung für die trans* Jugendlichen bringen. Häufig genügt das jedoch nicht, da dies nicht gegen die Dysphorie wirkt. Dann können Betroffene mittels Pubertätsblocker eine zusätzliche Entlastung bekommen.

Nach der Studie von van der Miesen von 2020 waren die Werte für das Auftreten von suizidalen Gedanken bei trans* Jugendlichen, die Pubertätsblocker erhielten, sogar auf das gleiche Niveau gesunken wie bei cis Jugendlichen.

Weil die psychischen Belastungen für trans* Jugendliche so enorm sind, ist eine psychotherapeutische Begleitung dringend zu empfehlen. Die Versorgungslage von Therapeut*innen, die auf das Thema „Transgeschlechtlichkeit“ spezialisiert sind, ist in Deutschland prekär. Hier hilft es schon, wenn Therapeut*innen dem Thema offen gegenüberstehen und bereit sind, sich zu informieren und weiterzubilden.

Letztlich ist es immer eine Einzelfallentscheidung, die endokrinologische und therapeutische Fachkräfte gemeinsam mit den Betroffenen und den Eltern treffen. Alle Beteiligten sollten sich bewusst machen, dass eine Entscheidung gegen Pubertätsblocker keine neutrale Entscheidung ist. Die natürliche Pubertät durchlaufen zu lassen, damit Jugendliche ihre geschlechtliche Identität auf „natürlichem“ Weg finden, ist hochriskant. Sie birgt eine sowohl eine hohe Gefahr für das Leben des betroffenen Jugendlichen als auch für die psychischen und körperlichen Folgen, mit denen sie im Erwachsenenalter umgehen müssen.

Mein persönlicher Entscheidungsprozess

Auch ich stand vor der Frage, ob ich einen so gravierenden Eingriff in den gesunden Körper meines Kindes verantworten kann.

Ich setzte große Hoffnungen auf die Begleitung meines Sohnes durch eine renommierte klinische Spezialabteilung. Dass die Wartezeit auf einen Ersttermin mehrere Monate dauert, war uns von vornherein klar. Letztlich warteten wir 9 Monate auf den ersehnten Anruf. Und auch das war wohl noch fast ein Glücksfall. Andere Eltern berichten mir von einer Wartezeit von mehr als 18 Monaten. Aber endlich hatten wir einen Termin. Nach dem ersten Gespräch waren mein Sohn und ich voller Hoffnung, dass er nun an der besten Adresse ist und nach den Gesprächen endlich die Pubertätsblocker bekommen würde.

Die Gespräche fanden in meist vierwöchigem Abstand über acht Monate hin statt. Meinem Kind waren die Gespräche nicht immer angenehm, aber er vertraute der Psychologin und war ihr gegenüber offen, auch was sein Erscheinungsbild anging. Er gab und kleidete sich so, wie er sich wohl fühlte. Sein Stil war durchaus nicht immer geschlechtskonform... Nagellack, gefärbte Haare, Eyeliner... für einen Jungen ist das noch nicht überall akzeptiert. Meinem Sohn wurde das Gefühl gegeben, so sein zu dürfen, wie er eben ist. Letztlich schien jedoch auch dies ein Aspekt gewesen zu sein, der zu einer Ablehnung der Indikation geführt hat.

Nach acht Monaten Gesprächen, in dem ihm immer wieder Mut gemacht wurde, seinen Weg zu gehen, dann eine Ablehnung für die Pubertätsblocker zu erhalten, war für uns beide niederschmetternd. Eine erklärende und zufriedenstellende fachliche Begründung erhielten wir nicht. Die im Gespräch von der Psychologin genannten Argumente hinterfragte ich nachdrücklich, jedoch widersprachen sich ihre Argumente mehr und mehr, so dass ich das Gespräch schließlich abbrach. Das galt es zunächst zu verdauen – für meinen Sohn und für mich.

Wir hatten jedoch Glück im Unglück, wie es so schön heißt. Der Kontakt aus einer Peer-Beratung aus dem vorangegangenen Jahr half uns dabei, eine spezialisierte Psychotherapeutin zu finden, die sich meines Sohnes annahm. Nach ausführlichen Gesprächen mit meinem Sohn und mir hielten wir die Indikation schließlich in den Händen. Endlich bekam mein Sohn die Pubertätsblocker von einem pädiatrischen Endokrinologen. Auch dieser klärte uns ausführlich über die Wirkungen, Nebenwirkungen und die Risiken auf. Da er schon viel Erfahrung in der Behandlung von trans* Kindern und Jugendlichen hatte, und uns von mehreren Stellen empfohlen wurde, fühlten wir uns dort sehr gut aufgehoben.

Es war ein langer Weg hin zu den Pubertätsblockern. Ich hatte viele Monate Zeit, mich mit dem „Pro und Kontra“ auseinanderzusetzen, viel zu lesen, mich umzuhören nach anderen Erfahrungen. Und ich sah währenddessen mein Kind immer mehr leiden – trotz ambulanter und stationärer Psychotherapie. Dass der Transitionsweg ein leidvoller sein kann, ist mir – und vor allem meinem Kind - bewusst. Aber ich wollte, dass mein Kind weiterlebt und dass seine Seele nicht mehr leidet. Aus meiner Sicht ist der Weg mit Pubertätsblockern für mein Kind der richtige gewesen.

Wichtig ist: jeder trans* Mensch hat seine individuelle Geschichte genauso wie Deine Lebenserfahrung als Elternteil beeinflusst, wie und warum Du bestimmte Entscheidungen triffst. Daher ist mein Prozess nicht zwingend übertragbar auf Deine oder andere Familiensituationen. Ich möchte Dir Mut machen, Dich aktiv mit diesem sehr kontroversen Thema auseinanderzusetzen und es nicht auszusitzen. Bleib in offener Kommunikation mit Deinem Kind, seinen Therapeut*innen und lasst Euch gut aufklären von Endokrinolog*innen und Beratungsstellen, die auf Trans-Themen spezialisiert sind. Hört Euch Erfahrungsberichte von anderen Eltern und Betroffenen an. Und trefft dann gemeinsam eine gut durchdachte Entscheidung zum Wohle Deines Kindes. 

Wenn Du irgendwann oder jetzt gerade vor dieser Entscheidung stehst und Dir Unterstützung dabei wünschst, dann melde Dich gern bei mir für ein kostenfreies Gespräch und schauen, ob und wie konkret ich Dir dabei behilflich sein kann.

Wenn Du regelmäßig Tipps und Infos rund um das Thema „Buntes Familienleben mit einem trans* Kind“ möchtest, lade ich Dich ein, meinen Newsletter zu abonnieren. Darin bekommst Du auch meinen neuesten Blogartikel und aktuelle Termine zu Veranstaltungen zugeschickt.

Bunte Grüße

Deine Katrin

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